im Museum auf Abruf am 20. Dezember 2011
Aurora ist das lateinische Wort für Morgenröte und der Name einer römischen Göttin. Mit Aurora wurde zudem eine Inselgruppe bezeichnet und ebenso die Heldin einer Oper von 1908 und eines surrealistischen Romans, ein Plattenlabel in der DDR und ein bis 2003 produziertes amerikanisches Automodell. Neben weiteren historischen und noch gültigen Erscheinungen ist uns Aurora als jener Panzerkreuzer geläufig, der 1917 mit einem Kanonenschuss die russische Revolution einleitete. Für mich steht Aurora jedoch vor allem für ein Projekt, das mir in gewisser Hinsicht die Augen geöffnet hat. Wie die Morgenröte den Tag einleitet und mit Licht zu füllen beginnt, so hat mir vor gut 20 Jahren die Installation von Christian Wachter einen neuen Horizont aufgetan.
Bis dahin stand mein Sinn in erster Linie nach historischer Fotografie, das zeitgenössische Geschehen wurde bestenfalls selektiv registriert. Für Konzeptkunst habe ich mich nicht interessiert. Und als ich nach einem Text gefragt wurde, der in dem für 1990 geplanten Katalog Platz finden sollte, hatte für mich primär die geschichtliche Dimension Relevanz: der revolutionäre Umbruch, der zur Gründung der Sowjetunion geführt hatte, und die Mythen, die sich danach um ihn zu ranken begannen, und wie dies alles fotografisch zu fassen sei. Auf welche Weise – lautete für mich die entscheidende Frage – können Bilder und Objekte die Verschränkungen von überlieferten Fakten und glorifizierenden Zuwendungen entwirren? Und welche Geschichte komme hinter der künstlerischen Inszenierung zum Vorschein?
Christian Wachters Konzept steht auf mehreren Beinen. Zunächst argumentiert er historisch, indem er beispielsweise die Besatzung der Aurora von damals in Porträts auftreten lässt. Er geht einen Schritt weiter und präsentiert gemalte Darstellungen der Matrosen und der nächtlichen Szenerie im Hafen von St. Petersburg am 7. November 1917, mit denen das Ereignis bereits mit der Gloriole einer revolutionären Tat umgeben worden ist. Alsdann tritt die jüngere Geschichte ins Bild, wenn auf einer Fotografie Michael Gorbatschow inmitten von Marineangehörigen auf dem Panzerkreuzer Platz genommen hat. Die Personen sind wie für eine Parade in Reih und Glied angetreten, und das Schiffsdeck und die Aufbauten verschwinden hinter der Masse der Offiziere und Soldaten, so dass es scheint, als habe die Geschichte angehalten und sei für den späteren Betrachter unsichtbar geworden. Analog figuriert in einem Wandbild eine Tafel Schokolade, auf deren Hülle der Name „Aurora“ in hellem Weiß erstrahlt, ganz wie ein Fanal, das zu einem Symbol erstarrt ist.
An anderer Stelle taucht eine lebendige Szenerie auf, wenn in den Aufnahmen von Christian Wachter aus den späten 1980er Jahren Touristen zu sehen sind, die sich an Bord der Aurora, die seit den 1950er Jahren ein Museum ist, umsehen. Man kann dies zunächst so oder so interpretieren: das Historische ist etwas Absolutes, Unverrückbares, das nicht zu befragen, sondern lediglich zu besichtigen sei. Etwa so wie die Farben, in denen nahezu alle Bilder und Objekte in dem Werk gehalten sind: blau für Meer, Marine und Himmel; rot für die Revolution, das vergossene Blut und die aufgehende Sonne. Aber es lässt sich auch eine andere Version denken: Nur in dem Betrachter, der die historischen Relikte aufmerksam studiert, kann sich Geschichte jeweils entfalten. So versteht sich das letzte Bild in der Ausstellung und im Katalog von 1990: Es handelt sich um eine Aufnahme in der Nähe der Wohnung des Künstlers im zweiten Bezirk, die zwei Aufschriften an einer Hausfassade in der Pazmanitengasse zeigt: „On time“ ist zu lesen, in blauen und roten Lettern, jeweils gebildet aus zwei Worten mit jeweils anderer Bedeutung. Wie Geschichte eben auch darin besteht, vergangene Gegebenheiten auszuwählen und zueinander ins Verhältnis zu setzen, um ihnen neue Bedeutungen zu entlocken.
Wachter reflektiert aber auch das Medium, mit dem er arbeitet. Die großformatigen fotografischen Wiedergaben eines Plastikmodells der Aurora neben diversen geometrischen Figuren entstanden als Mehrfachbelichtungen. Darin steht das Schiff als Produkt eines Mythos, in welchem Geschichte bloß noch im verkleinerten Maßstab auftritt, gegenüber den klarstrukturierten Formen, deren Konstruktion das Analytische repräsentieren. In diesem Spannungsfeld von ermittelten Daten und Modell bildet sich jene Vorstellung, aus deren konkreten und phantastischen Parametern sich Geschichte konstituiert. Und wie jedes Kunstwerk erst in der späteren Reflektion seine Rolle und Bedeutung zugewiesen bekommt, liegt aller Ursprung von Geschichte in der Gegenwart, die sich ein Bild von ihr macht. Diese Zeitebenen erhalten in der Ausstellung eine weitere, indem auf drei Tischen die ersten Schritte zur Verwirklichung des Projekts in den ausgehenden 1980er Jahren sichtbar gemacht werden. Zeichnerischer Entwurf und fotografische Umsetzung: Die Umwandlung der Skizze in eine negative Ansicht und diese in eine positive vollzieht die Materialisierung der Idee in ein Bild.
Christian Wachter baut seinen Gegenstand ähnlich auf, wie die Mythen der Vergangenheit folgen: Beiden liegt ein Reales zugrunde, das diversen Darstellungen und Interpretationen ausgesetzt wird, was zu Verkürzungen und Verfremdungen führt und damit zu immer neuen Bildern, hinter denen die ursprüngliche Fakten zurücktreten, während zugleich eine neuer historischer Entwurf entsteht. Insofern mag das Projekt „Aurora“ als ein Prototyp zur Erschließung der Vergangenheit mit künstlerischen Mitteln gelten, als eine Installation, die auf ungewöhnliche und eindringliche Weise allerhand zu erzählen weiß: von Geschichte und Gegenwart, von Konzept und Realisierung, von Kunst und Fotografie.