SEHSUCHT - Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts

Ausstellung in der Museumsmeile Bonn

Christian Wachter

Dass radikale politische und ökonomische Veränderungen stets auch einen paradigmatischen Wandel der Perzeption und Repräsentation von Wirklichkeit, des kollektiven Blicks auf die Welt nach sich ziehen, ist beinahe schon ein Gemeinplatz. Wie spannend es dennoch (oder gerade deshalb?) sein kann, dies – die Spuren eines fast schon vergessenen Massenmediums entlang – zu verfolgen, erfahren wir bei der Lektüre des vorliegenden Katalogs.

Am Ende des 18. Jahrhunderts sind die Enzyklopädien Diderots und d'Alamberts geschrieben und gedruckt, die Gebrüder Montgolfier haben erste Ballonflüge unternommen, die Bastille wird erstürmt (in der Vorhut Arbeiter jener Papiermanufaktur, wo die Hülle der Montgolfieren hergestellt worden ist und wo auch die ersten Flugversuche stattgefunden haben). – „Und Geo wird von diesem Tag an Demos heißen. Die ganze Welt wird eine Demokratie sein“ (Arago beim Anblick eines schwebenden Ballons).1 Das Bürgertum will die politischen Grenzen niederreißen, die seine Freiheit behindern (und auch die Zollschranken, die dem Warenverkehr im Wege sind), will die Welt für sich in Besitz nehmen und sucht nach neuen Horizonten – dazu bedarf es einer geeigneten Folie, auf die diese Sehnsüchte projiziert werden können.

In Edinburgh arbeitet um diese Zeit der in Irland geborene Robert Barker – Autodidakt und als Künstler wenig erfolgreich – an perspektivischen Studien für ein „Gemälde mit Rundhorizont“. Er reist nach London und zeigt seine Versuche Sir Joshua Reynolds, dem Präsidenten der Royal Academy. Der ist gar nicht begeistert. Barker lässt sich nicht entmutigen und verbessert seine Erfindung nach und nach. Aber erst als eine eigene Rotunde für sein Rundgemälde errichtet und mit dem Neuwort „Panorama“ ein einprägsamer Name für seine Unternehmung gefunden ist, beginnt die Sache zu laufen und bereits das zweite, von Barker in London 1793 gezeigte Panorama (ein See-Stück), wird ein Riesenerfolg bei Publikum und Presse.

Neu ist nicht nur die vollständige Rundumsicht von 360° und die bisher nicht gekannte Dimension – sensationell ist die Art, in der Barker Bild und Publikum zusammenführt: letzteres steht auf einer zentralen Plattform (die es über einen dunklen Zugang betreten hat) in gebührender Distanz zur bemalten Leinwand, deren Unter- und vor allem Oberkante und Beleuchtung sind ihm verborgen (durch Sichtblenden oder ein Velum, welches zugleich das Oberlicht angenehm streut), – So ist jeder Vergleich mit der Wirklichkeit ausgeschlossen und die Illusion perfekt. Der barocke Himmel, das Guckkastentheater, die feudale Zentralperspektive und alle Konventionen der barocken Illusionsmalerei sind damit überwunden.2 Aber nicht nur im Hinblick auf den Raum, auch ökonomisch völlig neu geregelt sind die Beziehungen zwischen (Ab)bild und Betrachter: nicht mehr ein einzelner Mäzen, sondern ein zahlendes Massenpublikum entlohnt den Künstler.

Zu schön ist eine häufig kolportierte Anekdote, um sie hier nicht wiederzugeben. Danach landet Barker, von Gläubigern verfolgt, im Schuldturm. Nur die runden Mauern seines finsteren Gefängnisses sind von oben schwach erhellt. Als ihn ein Brief erreicht, muss er, um ihn zu lesen, zur Wand gehen – seine Idee ist geboren! – Historisch ist die Person und das Werk von J.B. Micheli du Crest, der, wegen „republikanischer Umtriebe“ bernischer Staatsgefangener auf der Feste Aarau, mit primitiven Hilfsmitteln das erste wissenschaftliche Halbrund-Panorama (die Gletscher des Berner Oberlandes) um 1750 von seinem Fenster aus gezeichnet hat.3

In den nächsten 50 Jahren findet Barker viele Nachfolger, vor allem in den Metropolen Englands und Frankreichs, danach geht das Interesse zurück. Die Stärke der Panoramen, die perfekte Illusion, wird zum Nachteil – sie bringt die Starrheit und Leblosigkeit des Gezeigten umso mehr zu Bewusstsein. Nur der geniale Daguerre (und viel später das Kino) findet eine Lösung für dieses Problem: in seinen Dioramen gelingt es ihm bereits vor 1830, Bewegung und die Dimension der Zeit darzustellen.

Wenig interessiert zeigen sich auch die Amerikaner, als in New York erste Rotunden eröffnen. ihr Pioniergeist sucht andere Horizonte, sie begeistern sich mehr für die Sonderform des „Moving Panorama“ – dabei wird eine, zwischen zwei einander gegenüberliegenden, senkrechten Achsen ausgespannte und bis zu einige hundert Meter lange, bemalte Leinwand (häufig das „Go West“ Motiv thematisierend) an den Zuschauern vorbeigezogen. Diese Abart hat den Vorteil leichter Transportierbarkeit für Tourneen über Land und findet daher auch in Deutschland (dessen kleinstaatliche Struktur der Verbreitung großer Rotunden nicht günstig ist) und in der englischen Provinz viel Publikum.

Gegen Ende des Jahrhunderts kommt es zu einer Renaissance der großen Panoramen. Eine Allianz von Börsenmaklern, Ingenieuren und Malern gründet mehrere (meist belgisch dominierte) Aktiengesellschaften und errichtet zahlreiche riesige Rotunden (mit genormten Abmessungen, damit die Leinwände zwischen den einzelnen Standorten zirkulieren können). Aber der Boom währt nicht lange, ab 1900 wird die Konkurrenz durch Illustrierte und den Film zu groß, die Besucherzahlen (fast hätte ich geschrieben Einschaltquoten) gehen rapide zurück: die großen Panoramen werden Opfer der Spekulation, die sie hervorgebracht hat – nur ganz wenige sind bis heute erhalten. lm 20. Jahrhundert setzen sich vereinzelt Künstler noch einmal mit diesen „medialen Dinosauriern“ auseinander: so z.B. Abel Gance 1926 in seinem Konzept der simultanen, filmischen Mehrfachprojektion auf bis zu sechs Leinwände oder Werner Tübke mit seinem Bauernkriegspanorama in jüngster Vergangenheit.

Die vom Verlag sehr schön gestaltete Publikation behandelt das Thema in einem Essay- und einem Katalogteil. Marie-Luise v. Plessen und ihr (erstklassiges) Team von Kuratoren und Autoren haben es gut verstanden, übersichtlich und logisch zu gliedern. Vielleicht ist manches etwas zu dicht geraten: bei einigen Katalognummern hätte man gerne noch eine kleine Abbildung, bei manchem Essay ein paar Seiten mehr – besonders bei dem von Bruno Weber ist es mir so ergangen. Weber komprimiert in seinem Text über die Vorgeschichte des Panoramatischen Blicks auf knapp fünf Seiten und in 48 Fußnoten derart viel an Material und Information, dass ich ihm dafür doppelt so viel Platz gewünscht hätte. – Am wenigsten überzeugend finde ich das letzte, im (wieder zu kurzen) Kapitel „Künstlerblicke“ gebotene, zeitgenössische Beispiel, das mir doch eher ein ehrgeiziges, technisches Experiment zu sein scheint, – Richtig war die Entscheidung, der „Collection Bonnemaison ll“ soviel Raum zu geben; auch wenn man nicht mit allem einverstanden ist, was Joachim Bonnemaison schreibt und zeigt, so ist der Bezug zum Thema doch so eng, dass es schade wäre, darauf zu verzichten.

Natürlich lassen sich auch Fehler finden, z.B. solche des Lektorats: das Panorama „Palast und Garten von Versailles“ wird im Text richtig John Vanderlyn zugeschrieben, in der Legende zu seiner prächtigen Abbildung (auf der selben Seite!) steht der Name Frederick Catherwoods. Problematischer ist es, wenn Ulrich Giersch schreibt „als man um 1803 in der Wiener Praterrotunde mit dem Malen des 'Panorama der Stadt Wien' beschäftigt war, wurde die umgebende Wirklichkeit mittels einer auf dem Dach montierten Camera obscura eingeblendet“ – nach den Quellen, die ich eingesehen habe, erscheint mir dies sehr zweifelhaft.4 Und wer ist eine Spalte weiter wohl gemeint, E.L. Boulée oder Cl.N. Ledoux – oder vielleicht gar J.J. Lequeu (aber der ist ja bekanntlich nur eine Erfindung von M. Duchamp)5?

Ulrich Giersch schließt seinen sehr schönen Essay „lm fensterlosen Raum – das Medium als Weltbildapparat“ mit einem Ausblick in die Para-Medien, auf Digitalisierung, Holografie und Cyberspace, unsere mediale Gegenwart und Zukunft und auf Welten, die jenseits unserer herkömmlichen Wahrnehmungsgrenzen liegen. – Trotzdem: auch wenn das Ende der „Gutenberg-Galaxis“ schon längst angebrochen ist, möchte ich diesem Katalog sehr viele und aufmerksame Leser wünschen.

Anmerkungen:

1 Zit. nach Stephan Oettermann, Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt/M. 1980, S.15 – Dieses Buch sei damit auch jedem, der mehr Informationen zum Thema sucht, sehr empfohlen.

2 Ein wichtiger Vorläufer der Barkerschen Neuerung, in der barocken Gartenarchitektur, scheint mir das Gemälde „Ende der Welt“ im Park von Schwetzingen, besonders was die „Regie“ der Blicke und die Lichtführung betrifft. Vgl. Oettermann, a.a.O., S.152 und Abb.

3 in diesem Zusammenhang muss auch der englische Staatsrechtler und Utilitarist Jeremy Bentham mit seinem Projekt eines „Inspection-House“ oder „Panopticon“ (sic) erwähnt werden – ein architektonisch den Rotunden sehr ähnliches „Gefängnis des Blicks“, in dem die Bewacher den Platz des Publikums einnehmen. Vgl. Oettermann, a.a O.. S.34ff

4 Zweck der Camera obscura war viel eher, schon vor der Eröffnung Eintrittsgeld kassieren zu können. Zahlendes Publikum wurde über die breiten, auf allen Abbildungen der Rotunde deutlich sichtbaren Treppen, von außen aufs Dach und in die begehbare Camera obscura hineingeführt. Im Inneren des Rundbaus waren 1803 die Herren Janscha und Postl eifrig beim Pinseln, ein Einblenden der umgebenden Wirklichkeit hätte ihnen nichts genützt, denn ihr Panorama zeigt Wien von einem völlig anderen Standpunkt (und Gaffer hätten bei der Arbeit nur gestört).

5 Vgl. Philippe Duboy: Jean Jacques Lequeu, une enigme. Paris 1986. – Von diesem hoch interessanten Buch gibt es zwar eine englische, aber noch keine deutsche Ausgabe.

Rezension, aus: EIKON, Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst, Nr. 7/8, S. 133-135, Wien 1993