„Das Thema meiner ersten Arbeit ist die Sprache der Fotografie selbst. Mit den Grundelementen dieser Sprache: Licht, Raum, Zeit, die Beziehungen zwischen sichtbarer Welt, deren Abbildung und dem Medium zu beschreiben, war mein Ziel. Auf dem Weg dahin wollte ich Konventionen im Umgang mit der ‚sichtbaren Realität’ meiden – ich bin jedoch der Faszination der Objekte, visuellen und formalen Reizen, willig gefolgt. Diese Schritte bei künftigen Arbeiten, quasi als Programm, im Auge zu behalten ist mein Wunsch.“
Bereits in seiner ersten abgeschlossenen Arbeit: „disappearance of landscape ...“ die in den Jahren 1981 bis 1983 entstanden ist, legte Christian Wachter seinen Umgang mit Fotografie in einem – die zweiteiligen Fotoarbeiten begleitenden – Typoskript als „Programm“ vor. In „disappearance of landscape …“ geht es um die Untersuchung des Raumes, der fotografisch so festgehalten wird, dass die Modulation des Lichtes mit dem Wechsel der Bildtiefe in der Wahrnehmung des Betrachters einen Blickwechsel suggeriert, obwohl die Ausschnitte der Natur- und Architekturansichten unverändert bleiben. Es ist der Eingriff der Fotografie, der die Wirklichkeit in ihrer Repräsentation wahrnehmbar macht oder in das Unsichtbare verschwinden lässt. Seinen kurzen programmatischen Text zu dieser Arbeit ergänzt Christian Wachter dann auch schlüssig durch jenen so schönen Gedanken von Walter Benjamin über die “andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, dass an die Stelle eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raums ein unbewusst durchwirkter tritt. …“
In Christian Wachters Arbeit verbindet sich die formale Sicherheit des guten Fotografen (der, wie er sagt, mit Lust der Faszination der Objekte, visuellen und formalen Reizen folgt) mit dem kritischen Ansatz, für jedes seiner Projekte die Eigenschaften und Möglichkeiten des Mediums Fotografie neu zu befragen. Tatsächlich wird bereits in dieser frühen Arbeit ein Verhältnis zur Fotografie sichtbar die Wachters Arbeit bis zu den jüngsten Projekten in der Gegenwart auszeichnen wird. Die Serie als Struktur, als Konstellation von Elementen, die in wechselseitige Relationen eintreten können wird zu seiner bevorzugten Methode: In einem erweiterten Sinne kann man von Montagen sprechen (also Bild und Bild oder Bild und Text), insofern also von mehr als einem Bild die Rede ist und Bilder, gleich dem Text, als Wirklichkeitszitate aufgefasst werden. Die Serie bietet die Möglichkeit der Entwicklung einer Beschreibung ohne dem einzelnen Bild das Herstellen eines Kontextes (wodurch erst Bedeutung entstehen kann) aufzubürden. Dem Betrachter erlaubt diese Vorgehensweise, dem Entstehen eines „Textes“ zu folgen, in ein Feld interpretativer Möglichkeiten einzudringen und seinen eigenen Standpunkt einzunehmen. Die Serie als Form stellt sich der Dominanz des einzelnen Bildes entgegen – das Einzelbild als wesentliche Einheit ist jedoch in seiner Qualität erhalten. Die serielle Anordnung bedingt, dass der inhaltliche und thematisch definierte Aspekt der Arbeit zu überwiegen scheint gegenüber dem persönlichen Stil und Handschrift des Autors.
Die analytische, theoretische und historische Befragung des Mediums Fotografie spielt in Christian Wachters Umgang mit dem Visuellen eine ebenso große Rolle wie seine Vorliebe für Projekte, die umfangreiche Recherche einschließen und oft über einen langen Zeitraum bearbeitet werden. Neben der Form der Fotoserie wählt er in mehreren Projekten eine konstruierende Vorgansweise, indem er mehrere Aufnahmen innerhalb eines einzigen Bildes überlagert. Ein Beispiel dafür ist die Serie „Stil(l)-leben oder die zwei Gipfel des Kilimandscharo“ (1986 –1988). Hier fällt der Blick nun nicht mehr auf Landschaft und Architektur, sondern auf ineinander verschobene Arrangements von Alltagsgegenständen, Kinderspielzeug, Erinnerungsstücken und Möbeln. Wir erkennen an einigen Dingen, die mehrmals vorkommen, dass die Szenen in diesen fünf Bildern sich in einem einzigen Raum abspielen. Das Blitzlicht hebt einzelne Partien aus dem Schwarz des Hintergrunds heraus, in den zweifach belichteten Bildausschnitten erscheinen die Objekte schwerelos, in Bewegung gesetzt, unwahrscheinliche, bisher nicht gesehene Konstellationen der Objekte des eigenen Haushalts bildend.
Das Projekt „ABPOPA/AURORA“, bearbeitet in den Jahren 1988 – 1991, nimmt die Oktoberrevolution in Russland und das Scheitern ihrer sozialen, politischen, auch künstlerischen Utopien zum Thema. Hier untersucht Wachter die ästhetischen und sentimentalen Elemente dieser Glorifizierung der Geschichte, welche die Erinnerung an das Ereignis im kollektiven Gedächtnis prägen: „Aurora ist nicht ein bestimmtes historisch-politisches Ereignis, nicht eine bestimmte künstlerische Tradition, kein Mythos, sondern unser Blick darauf.“ Die Vielfalt des Materials bedingt unterschiedliche fotografische Vorgangsweisen: Eigene Erinnerungsfotos werden blau getont und in ovalen roten Rahmen präsentiert. Sie sind1988 auf Reisen in die Städte Minsk, Moskau und Leningrad entstanden, vor allem auf dem Panzerkreuzer Aurora (von dem aus laut offizieller sowjetischer Geschichtsschreibung durch einen Kanonenschuss am 25. Oktober 1917 die Russische Revolution begonnen haben soll). Großformatige schwarz-weiße Bildmontagen, in denen ein (in Wien gefundenes) Modell des Kreuzers Aurora die zentrale Position einnimmt, entstehen im Studio: sie lösen Assoziationen zur Ästhetik der Revolutionskunst aus. Gebrauchs- und Konsumgegenstände (etwa eine Schokolade namens Aurora), die auf der Reise durch die Sowjetunion gesammelt wurden und in denen die Bildwelt der Revolution auf triviale Weise nachwirkt, werden als Gegenstand selbst oder als deren fotografische Reproduktion präsentiert. Jedem dieser Elemente des Projektes entspricht eine eigene fotografische Vorgangsweise, in der die Konstitution von Erinnerung und das mythenverzerrte Fortleben des Kanonenfeuers der Aurora zum Thema genommen wird. Das Künstlerbuch „ABPOPA/AURORA“ (1990 bei Camera Austria erschienen) und die Installation in Einbeziehung von verschiedenen Recherche-Materialien, Wandmalereien und Artefakten ergänzen die Fotografien und werden wesentliche Teile des Projekts.
"Impressions D'AFRIQUE", diese zwischen 1998 und 2006 entstandenen Arbeit Christian Wachters wurde erstmals in ihrer Gesamtheit 2010 bei Camera Austria als Ausstellung gezeigt, nachdem das Projekt zuvor als Künstlerbuch veröffentlicht worden war (Edition Fotohof, 2006). Die Form des Buches bietet sich an, um verschiedene Erzählstränge des Werkes in einzelne Kapitel und innerhalb dieser in die Sequenz aufeinander folgender Seiten zu ordnen. Für die Ausstellung haben die unterschiedlichen Teile des Projektes, indem sie räumlich auf einander Bezug nehmen, eine neue Gewichtung erfahren: "Les Incomparables / Die Unvergleichlichen", eine Serie von rund sechzig Fotografien, deren Reihenfolge dem zentralen Kapitel des Künstlerbuches entspricht, bildet den größten Korpus des Werkes. Der Titel dieser Arbeit: "Impressions D'AFRIQUE" ist dem 1910 erschienenen Buch von Raymond Roussel entlehnt. Roussel beschreibt hier, in einer Umkehrung der kolonial definierten Blickrichtung, wie eine Gruppe europäischer, in Afrika gestrandeter und dort gefangen gehaltener Schiffbrüchiger, genannt "les incomparables" vor König Talou im Urwald ihre Kunststücke aufführen müssen. Das „Unvergleichliche“ in Wachters Arbeit steht für den Versuch einer Beschreibung, in der alles – die private und die „große“ Geschichte, selbst Erfahrenes wie empfangenes, vermitteltes Wissen, zeitlich Nahes und lange in der Vergangenheit zurück liegendes – Platz finden kann. Voneinander unabhängige Fäden, durch Begegnungen mit Personen und die Wahrnehmung und Erinnerung des Künstlers miteinander verbunden, werden aufgenommen und zu einer Erzählung verflochten. Ortsangaben und Aufnahmedaten – Wien, Paris, Burkina Faso, Yamoussoukro, Basel – lassen uns diese Arbeit auch als Reiseerzählung verstehen. Auf die visuelle Lesbarkeit der Bilder allein angewiesen können vor allem zwei zusammengehörige Bildgruppen identifiziert werden: Schnappschüsse von Akrobatik-Vorstellungen, die Wachter von einem der Protagonisten, der zugleich eine der Schlüssel-Figuren des Projekts ist – zur Reproduktion übergeben worden waren (hier handelt es sich um Aufnahmen der "Acrobates de Kadiogo", die während der Zeit marxistisch orientierter Politik unter Präsident Thomas Sankara im Burkina Faso der 1980er Jahre aufgetreten sind). Diese Dokumente im Vergleich zu den weiteren Aufnahmen dieser Serie werden als solche auch ästhetisch verstehbar gemacht. Ähnlich wiederholend wie die Amateuraufnahmen der Akrobaten erscheint eine Reihe von Porträts der Lebenspartnerin des Künstlers, in der immer wieder die Geste des Haare machens auftaucht, Frisur und Pose zum wiederkehrenden Motiv werden. Diese beiden Bildgruppen werden als zusammengehörig verstehbar, obwohl sie verstreut in einer Reihe von Fotografien liegen, die europäischen oder afrikanischen Wohn- und Arbeitssituationen zeigen, die Stationen auf der Reise und visuelle Markierungen im Arbeitsprozess des Künstlers sein könnten. Zwei Teile der Arbeit sind als Film umgesetzt worden: Das Video "L'Intannable" ist den Lebenserinnerungen Joseph Conombos gewidmet (geb. 1917, Arzt, Parlamentarier in Frankreich und Politiker in Burkina Faso, Schriftsteller) der zu jener Generation gehört, die an der Seite Frankreichs im 2. Weltkrieg in Europa gekämpft haben, die danach die Befreiung von der Kolonialmacht in ihrem eigenen Land mit durchgesetzt haben, und die von der Kolonialzeit, durch die Befreiungsbewegungen bis ins späte 20. Jahrhundert ihr Land und Afrika geprägt und die zeitweise auch die Geschicke der neuen Nationalstaaten gelenkt haben. Dies gilt auch für Félix Houphouet-Boigny, Freund und Studienkollege Conombos und langjähriger Präsident der Elfenbeinküste, mit dem der zweite Film verbunden ist: Im Video "Krebsgang" versucht Wachter, die absurde, gigantische Replik des Petersdoms: der Kathedrale Notre Dame de la Paix in Yamoussoukro (dem Heimatdorf von Houphouet-Boigny, das er zur neuen Hauptstadt des Landes machte), wo dieses größte Bauwerk Afrikas steht, zu fassen.
Im Herbst 2010 nutzte Wachter die Gelegenheit einer Einladung nach Algerien für die Auseinandersetzung mit den sozialen, politischen und historischen Gegebenheiten des Landes und seiner Hauptstadt. Er stößt auf den Stadtteil Diar El Mahçoul (la cité de la promesse tenue / die Stadt des gehaltenen Versprechens), eine Siedlung sozialer Wohnbauten, geplant und errichtet vom Architekten Fernand Pouillon (1912–1986) für Angestellte der französischen Kolonialverwaltung, Anfang der 1950er Jahre, also kurz vor Beginn des algerischen Unabhängigkeitskrieges. Wachter fertigt eine Serie von Aufnahmen dieses Stadtviertels, das oberhalb der steil abfallenden Hänge der Stadt zum Meer hin liegt, überragt nur vom mächtigen Denkmal für die Märtyrer des Befreiungskampfes Algeriens. Die Fassaden der Wohnblöcke sind übersät mit Satellitenempfängern. Jetzt, 60 Jahre danach, beklagen die Bewohner den desolaten Zustand dieser ehemals modernen Wohnhäuser (die das Wohlwollen und die soziale Gesinnung der Kolonialregierung beweisen sollten) und verlangen, umgesiedelt zu werden. Anfang 2011, wieder in Wien und unter dem Eindruck der Ereignisse in Tunesien und Ägypten, abonniert Wachter die digitale Ausgabe der algerischen französisch-sprachigen Tageszeitung El Watan und erfährt von den Unruhen und Vorfällen im Konflikt der Bewohner mit der Stadtregierung. Wachter verfolgt diese Nachrichten, er fotografiert sie vom Bildschirm (so, dass die Struktur der Bildschirmoberfläche sichtbar wird) und übernimmt Ausschnitte des Textes in die Fotoarbeit. So entstehen hochformatige Doppelbilder, in denen Aufnahmen des Stadtteils kombiniert werden mit Passagen der Nachrichtentexte, in denen die charakteristischen Begriffe von einem Textausschnitt zum nächsten – négotiations, citoyens, emeutiers, jeunes manifestants, barricades – durch die Wortwahl ihre eigene Geschichte erzählen.
An das Projekt in Algier anschließend entsteht 2011 die Arbeit „Bad Ischl, 15. Juli 1912“. Hier nimmt sich Wachter den Text des österreichischen Islamgesetzes vor, das mit Dekret des Kaisers eben in Bad Ischl im Juli 1912 verabschiedet wurde. In der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Vorschlag eines neuen Islamgesetzes für Österreich bekommt diese Arbeit besondere Aktualität. Wachter besucht und fotografiert Moscheen und Gebetsräume in Wien, oft leere Räume, manchmal sehen wir Betende oder Kindergruppen beim Koranunterricht. Die Arbeit besteht aus 11 Bildtafeln, die an Lehrtafeln aus dem Unterricht erinnern, auf denen in Bildern und Texten einen Sachverhalt erklärt wird. Jedem der beiden Artikel des Gesetzes, und jedem der 8 Paragraphen des Artikels eins, ist eine Tafel gewidmet, auf Tafel Nr. 11 ist der gesamte Gesetzestext in deutscher und französischer Sprache zu lesen. Wachter montiert auf jeder der 10 Tafeln drei Fotografien von Gebetsräumen, die Titel der Fotografien beinhalten die Dateinummer, Ortsangabe und Uhrzeit der Aufnahme. Als Bildtext wird der Artikel oder Paragraph des Gesetzes angeführt. Ein Schlüsselwort des Artikels wird zum Titel der Bildtafel, für Artikel I, § 1 lautet dies „zu regeln“, für § 2 „berufen“, für § 3 „untersagen“, usf. Das vierte Bildelement der Tafel bildet die vom Bildschirm fotografierte Textpassage des Gesetzes, in dem dieser Begriff zentral gestellt ist.
Wissenschaftliche und historische Recherche sind wesentlicher Bestandteil in Christian Wachters Arbeiten. Seine Serien, Tableaus und Montagen schaffen keinen illusionistischen Bildraum, sondern Bilder und Bilder, oder Bilder und Texte, die jeweils unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Genres sein können, werden in Beziehung gesetzt. Ein ganzheitlicher Anspruch des fotografischen Einzelbildes wird zugunsten eines komplexen Realitätsbegriffs aufgelöst, im Zusammenwirken von Einzelelementen oder in deren Opposition wird Interpretation möglich.
Der Österreichische Kunstpreis für künstlerische Fotografie für Christian Wachter zeichnet zu Recht den Autor eines ebenso komplexen wie inhaltlich und poetisch überzeugenden Werkes aus.