Im Februar 1992 unterzeichneten die Vertreter der damals 12 EU Länder die Verträge von Maastricht in der gleichnamigen holländischen Stadt. Sie enthielten nicht nur die bekannten Regeln für die nationalen Ökonomien der einzelnen Länder (max. 3% Neuverschuldung, Staatsschulden von max. 60% des BIP) sondern formulierten erstmals so etwas wie das Programm einer politischen Union.
Als ich Anfang April d.J. in Paris eintraf, waren die deutschen, französischen und italienischen Zeitungen, die ich las, voller Debatten über den Inhalt dieser Verträge und die Folgen für den Kontinent (der eben erst den Zerfall des „Ostblocks“ gesehen hatte). Ich war leidenschaftlich interessiert, sah ich doch – 200 Jahre nach Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika und französischer Revolution – in einem vereinten Europa so etwas wie die Verwirklichung der Ideen und Ideale der europäischen Aufklärung und eine große Utopie. Ich begann, mich als Teil dieses Projekts zu fühlen und hatte den Wunsch, bald auch wirklicher „de jure“ Teilnehmer zu werden.
Aus Wien hatte ich die Reproduktion eines Gemäldes (École de Fontainebleau, spätes 16.Jh.) mitgebracht, es zeigt die hl. Genoveva, Schutzpatronin von Paris. Sie sitzt, umgeben von einer Herde von Schafen, in der Mitte eines Cromlechs von etwa 40 Steinen (ungefähr so viele wie die Länder des geografischen Europas). – Weil ich, an dem in der Literatur angegebenen Standort für das Original des Bildes (einer spätgotischen Kirche in der Rue St.Martin, nicht weit von meinem Quartier) dieses nicht finden konnte, ist das Blatt für das SIEBENTE KAPITEL, Suite (Folge, Fortsetzung) in meiner Arbeit Europe weitgehend leer geblieben (makellos weiss, wie das Fell des Stiers in dessen Gestalt Jupiter, dem Mythos nach, Europa nach Kreta entführt hat).
Bald nach der vergeblichen Recherche in der Kirche in der Rue St.Martin unternahm ich eine Pilgerfahrt zur (winzigen) Rue Eugène Atget. Auf dem Rückweg hielt ich an der nahegelegenen Place d'Italie, ZWEITES KAPITEL. Einst Ein- und Ausfallstor von und nach dem Süden, standen dort bis ins 19. Jh. die Zollpavillons von Claude-Nicolas Ledoux (erst Architekt Ludwigs XVI und später der Revolution). Seit den 1980er Jahren dominiert ein shopping center des Pritzker-Preisträgers Kenzo Tange, das ich nicht so toll finde, den Platz. Verliebt in Italien wie ich war, habe ich dennoch ein Photo gemacht (Laufbodenkamera, Stativ und Wasserwaage, 4x5 inches Planfilm, schwarzweiss).
Über Ostern reiste ich mit meiner Ausrüstung dann für ein paar Tage wirklich nach Italien. Im Dreieck des Giebels eines eingerüsteten (und daher unserem Blick verborgen bleibenden) Hauses meinte ich dort, unweit vom Gardasee, das „Gemeinsame Dach“ (für „die Politiken und Formen der europäischen Zusammenarbeit“) zu sehen, von dem in den Kommentaren zu den Verträgen von Maastricht immer die Rede war – Italie, DRITTES KAPITEL.
Zurück in Paris setzte ich meine fotografische Reise durch die Topographie der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin) fort und Léon Gambetta schien mir ein passender Anknüpfungspunkt. Als Sohn eines eingewanderten italienischen Kaufmanns ging er auf der Seite der Linken in die Politik, im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 nahm er widersprüchliche Positionen ein. Nach dem Sturz Napoleons III und der Zerschlagung des „Zweiten Kaiserreichs“ war er einer der Gründer der „Dritten Republik“. Das Monument in der Mitte der Aufnahme der Place Gambetta, VIERTES KAPITEL, ist wiederum von einer Verschalung umgeben und dem Blick entzogen.
Bis zum Ende meines Aufenthalts blieben mir noch ein paar Wochen. Ich begann im Stadtplan von Paris „Die Namen der Geschichte“ (Jacques Rancière) zu suchen, im irrwitzigen Verlangen irgendwo eine Route zu einer „Poetik des Wissens“ (derselbe) über Geschichte und Vorgeschichte der Ideen und Wirklichkeiten eines Projekts wie das eines „Vereinten Europas“ zu finden. – Ein Verweis auf Absolutismus/Feudalismus und Ancien Régime darf da nicht fehlen: Die Place des Victoires, FÜNFTES KAPITEL wurde unter der Regentschaft Ludwigs des XIV., des Sonnenkönigs geplant und erbaut. Sein Monument in der Mitte des Platzes war in den Revolutionsjahren zerstört und durch eine Holzpyramide ersetzt worden, während der Restauration zu Beginn des 19.Jh. wurde es neu aufgestellt. Er und sein Pferd kehren uns in meiner Aufnahme – wie gewöhnlich entstanden zur verkehrsarmen Mittagszeit oder zum verkehrsarmen Wochenende – den Rücken zu. Sie blicken zum (rückwärtigen) Portal der „Banque de France“, 1800 von Napoléon Bonaparte nach dem Desaster mit den „Assignaten“ gegründet. In ihren Kellern lagern noch heute rund 2.500 Tonnen Gold.
Die Statue of Liberty (Liberty Enlightening the World) im Hafen von New York wurde 1886 eingeweiht, 110 Jahre nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Sie ist ein Geschenk Frankreichs an die Vereinigten Staaten von Amerika. Weltweit gibt es zahlreiche Kopien, z.B. von H. Skerbisch bei der Grazer Oper. Eine andere steht auf der „Schwaneninsel“ der Seine in Paris, nicht weit vom Eiffelturm, sie blickt in Richtung ihrer (vier mal größeren) Schwester jenseits des Atlantiks. Sagt man laut den französischen Namen der Insel „Île aux Cygnes“ (Insel der Schwäne), kann dieser auch als „Île aux Signes“ (Insel der Zeichen) verstanden werden – Suite, SECHSTES KAPITEL.
Ferdinand de Saussure, dem Ahnherrn der modernen Linguistik, Semiotik (und des Strukturalismus) zufolge sind Zeichen (Signes / Sème) prinzipiell „arbiträr“. Diese „Arbitrarität“ meint keineswegs Beliebigkeit oder Willkürlichkeit im Prozess einer Herstellung von Bedeutung. Für Saussure bilden Sprache und Zeichen keine Gedanken ab, sie erschaffen sie vielmehr. Erst im Sprechakt, in der Artikulation und Entäußerung als Zeichen, erst in deren Nachbarschaft und Differenz zu anderen Zeichen entstehen Sinn und Bedeutung. Rue de Saussure, ACHTES KAPITEL.
Über den Geleisen nördlich des Bahnhofs St. Lazare in Paris erhebt sich seit dem späten 19.Jh. eine gigantische Eisenkonstruktion (damals ein beliebtes Motiv für Maler wie Claude Monet oder Gustave Caillebotte, 1931 erneuert), sie trägt die Place de l'Europe. Sternförmig in alle Himmelsrichtungen gehen von hier mehrere Strassen ab, die Namen europäischer Städte tragen, so z.B. nach Nordosten die R. de St.Petersbourg, ERSTES KAPITEL und nach Südwesten die Rue de Vienne, NEUNTES KAPITEL. Für die Platzmitte, dort, wo heute ein mickriges Blumenbeet liegt, war im 19.Jh. ein riesiger Brunnen geplant mit einer Statue der Europa und Fontänen für Rhein, Donau und die anderen großen Flüsse des alten Kontinents.
Bei meiner Aufnahme in Richtung Süden kehre ich der R. de Constantinople den Rücken zu, die Bahnhofsuhr von St. Lazare zeigt auf Punkt 12 Uhr, Place de l'Europe, ELFTES UND ERSTES KAPITEL. Ausschnitte mit den Wolken am Mittagshimmel über dem Platz bilden das ZWÖLFTE KAPITEL, Fin et Suite (Ende und Folge, Fortsetzung) und den Titel Europe, MCMXCII. Etwas später, im Juni und wieder zurück in Wien habe ich vor dem Westbahnhof eine letzte Aufnahme gemacht: Europaplatz, ZEHNTES KAPITEL.
Zur gleichen Zeit begann ich mit historischen Schrifttypen, kleinen Abzügen meiner Aufnahmen, Bleistift, Schere und Klebstoff Entwurfsskizzen zu machen. Ich wollte absichtlich formalen Anachronismus (als würde man aus ferner Vergangenheit auf Gegenwart und nahe Zukunft blicken) erreichen und ein strukturelles „Unvernehmen“ (Jacques Rancière) in den Beziehungen von Bildern und Legenden mit- und untereinander. Keinesfalls eine enzyklopädisch-dokumentarisch-systematisch-topografische Beschreibung von „Europa“. Vielmehr eine eigensinnige, sogar „häretische“ Geschichtsschreibung, europäische IMAGI–NATIONEN sozusagen.
Deren exakte (und analoge!) Übersetzung auf 50x60cm großes, barytiertes Photopapier in der Dunkelkammer (für eine Ausstellung im Frühjahr 1993) war dann nicht einfach, hat aber auch Spass gemacht. – Heute, so fürchte ich, egal ob in Europe oder in €uropa, ob im globalen oder im elektronischen „Empire“ (Michael Hardt/Antonio Negri, Ramon Reichert), angesichts zunehmender De-Territorialisierung und zunehmend unsichtbar werdender „Governance“ sind wir auch nicht klüger als in den Tagen der Unterzeichnung der Verträge von Maastricht.
Ziemlich sicher bin ich mir aber, dass sich meine Fotos gefreut haben, als sie nach 20 Jahren aus ihren Verpackungen genommen wurden und wieder ans Licht gekommen sind.
Christian Wachter, Wien, Juni 2013