am 15.09.2011 im Ver Sacrum Zimmer der Wiener Secession (anlässlich der Präsentation des Buches Diar El Mahçoul durch Christine Frisinghelli und Rainer Iglar) NICHT gehaltene (und zwei Tage später niedergeschriebene)
Dem Buch Orientalismus von Edward W. Said (das ich hier erwähnen darf, hoffentlich ohne in den Verdacht zu geraten, mich mit diesem grossen Autor und diesem grossen Werk irgendwie vergleichen zu wollen) ist ein Zitat von Karl Marx vorangestellt, aus dessen Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Das Zitat lautet: „Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden“.
Mit Sie meint Karl Marx die Orientalen, vertreten werden müssen sie in einer möglichen Weltrevolution oder, allgemeiner, als Subjekte von historischen Prozessen überhaupt. Nicht nur Edward Saids Buch widerlegt diese Ansicht von Marx als ein Vorurteil, auch die Ereignisse der letzten Monate in vielen arabischen Ländern scheinen ihn (in diesem Punkt) Lügen zu strafen. Die Mehrzahl aus der grossen Schar der Abenteurer, Eroberer, Forscher, Gelehrten, Kolonialbeamten, Wissenschaftler und Künstler deren Wirken und deren Werke Edward Said in seinem Buch analysiert – egal ob sie von ihrer Studierstube zu Hause aus oder vor Ort gearbeitet haben – scheinen wenig anderes „entdeckt“ zu haben, als Varianten des Marx'schen Vorurteils oder neue Vorurteile.
Dies mag schlicht an ideologischer Verblendung, vermischt mit rassistischen und imperialistischen Motiven, gelegen sein. Edward Said schreibt es auch einer methodischen Verknappung und Verkürzung, einer „positivistischen Perspektivverengung“ zu, die dem Orientalismus als wissenschaftlicher Disziplin und den Orientalisten eigen ist. – Einer Tendenz, aus der (empirischen) Beobachtung einzelner Phänomene und kleiner Teile, wie auch aus dem (distanzierten) Blick auf das „Grosse“ und „Ganze“, stets zu Verallgemeinerungen zu gelangen und eine Essenz, eine Wahrheit des Orients und der Orientalen ableiten zu wollen.
Im Nachwort von Diar El Mahçoul schreibe auch ich vom „Grossen“ und „Ganzen“ und von kleinen Teilen oder Ausschnitten. (Und auch ich komme in diesem Nachwort zu einer Verallgemeinerung, worauf mich Christine Frisinghelli hingewiesen hat – das ist wohl meinem Wunsch nach grösstmöglicher Kürze und vielleicht etwas zu griffiger Formulierung geschuldet, ich räume mir ja selbst, auf der Innenseite des Schutzumschlags, nur sehr wenig Platz dafür ein.) Bin ich also am Ende auch ein ideologisch verblendeter Orientalist, wie von E. Said beschrieben?
Um zu glauben, dass ich in meinem (Ach so kleinem und in so kurzer Zeit entstandenem) Buch essenzielle „Aussagen“ über die Ereignisse der letzten Monate in den arabischen Ländern liefern kann, bin ich nicht nur nicht anmaßend, naiv, vermessen genug – das ist auch keineswegs meine Absicht! Was ich hingegen vorlegen will, ist das Bild eines konkreten, sozialen und politischen Konflikts zwischen Institutionen und einer Gruppe von Individuen. Topographisch situiert auf einem der Hügel der Stadt Algier, in einem „Geviert“ von ein bis zwei Quadratkilometern. Der zeitliche Rahmen dieses Bildes reicht sicher über die etwa zwei Stunden hinaus, in denen die Fotos in der Cité de la promesse tenue entstanden sind. Wer will, mag bei Cervantes in seiner Höhle beginnen (ein paar Steinwürfe von dem „Geviert“ entfernt). Ich möchte nachdrücklich vorschlagen, den Beginn spätestens in den Jahren 1953-1954 anzusetzen (dem Zeitpunkt der Konstruktion und Errichtung der Siedlung, kurz vor dem Beginn des algerischen Unabhängigkeitskrieges). Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir als Ende dieses zeitlichen Rahmens schon den 4. April 2011 annehmen dürfen (der Tag der letzten Meldung aus der Zeitung El Watan in meinem Buch).
Habe ich doch gerade erst gelesen (in der Online-Ausgabe der erwähnten Zeitung), dass erstens, die Umsiedlung der Bewohner der Siedlung abgeschlossen ist (was diese mit lautstarken Freudenkundgebungen begrüßt haben – promesse tenue) und dass, zweitens, in einem anderen Vorort der Stadt Algier, etwa hundert Jugendliche, mit Brecheisen und Molotow-Cocktails bewaffnet, versucht haben in die Druckerei von El Watan einzudringen und das Papierlager in Brand zu setzen. Was von der Belegschaft und herbei gerufenen Polizeikräften gerade noch verhindert werden konnte.
Auch ein Orientalist – wenn ich denn einer bin, ideologisch verblendet oder nicht – darf exzentrisch sein und dem Bild, das er vom Orient zeichnet, seinen persönlichen Stempel aufdrücken (nach E. Said hat das z.B. auch Gérard de Nerval getan). So habe ich also meine Architekturfotografien vom 11.11.2010 aus der Siedlung mit den Meldungen von El Watan vom März und April 2011 „verknüpft“ (oder kurzgeschlossen, wie ich lieber sage – ein „Verfahren“, wenn man es so nennen will, das ich schon mehrmals angewendet habe).
Ich selbst empfinde diese extremen Nahaufnahmen der Meldungen von El Watan als absurde, etwas hilflose, fast schon komische Geste, ein „Als Ob“. – Als ob hinter den Graphemen-Lexemen-Morphemen-Phonemen, hinter den Silben (bei meiner Suche nach Ausschnitten habe ich Worte, die ich scharf abbilden wollte, laut vor mich hingesagt – „ bar-ri-ca-des “), als ob hinter dem „Gitter der LED-Punkte meines Bildschirms“ eine Wahrheit verborgen sein könnte, eine Essenz des „Arabischen Frühlings“.
Was ich vorschlagen will, ist Texte und Bilder gemeinsam zu denken. Oder Texte als Bilder und Bilder als Texte zu denken. Mit anderen Worten, ein ästhetisches Denken.
Jedenfalls ein kritisches Denken, das sich in der Art einer hermeneutischen Spirale von Frage zu Antwort und zur nächsten Frage, immer höher schraubt (oder tiefer bohrt, wenn Sie wollen) und niemals zum Abschluss, zur Essenz kommen kann. Alle, die mich dabei begleiten, mir dabei zusehen oder ihre eigenen Spiralen drehen wollen, sind mir herzlich willkommen.
Dankeschön!
Christian Wachter, Wien, 17/18.09.2011